Gesundheit

Erkältetes Kind mit Mutter
4. Januar 2023

Welle trifft Engpass

RSV, Grippe, Covid-19, Erkältungen: Seit Wochen rollt eine große Infektionswelle besonders durch die junge Bevölkerung. Fiebernde, hustende, verschnupfte Kinder an allen Ecken. Dass auch noch manche Medikamente schwer zu bekommen sind, ist zusätzlich herausfordernd.

  • Text : Martina Feichter
  • Lesedauer : 9 Minuten

Derzeit sind die Warteräume vieler Kinderarztpraxen voll und auch die Kinderkliniken überlastet. Da stellen sich viele Eltern die Frage: Wann muss ich mit meinem kranken Kind tatsächlich ärztliche Hilfe suchen?

„Das hängt vom Allgemeinzustand des Kindes ab“, erklärt Voitl. „Wenn ein Kind zum Beispiel lethargisch wirkt und Trinkunlust zeigt, ist ein Arztbesuch ratsam.“ Das Gleiche gelte, wenn es von Schmerzen oder hohem Fieber geplagt werde.

Dr. Voitl im Gespräch mit NetDoktor

Kinder- und Jugendarzt Dr. Peter Voitl ist Gründer und ärztlicher Leiter des Kindergesundheitszentrums Donaustadt – Gruppenpraxis Dr. Peter Voitl und Partner. Er hat eine Gastprofessur an der Medizinischen Universität Wien und eine Assistenz-Professur an der Sigmund Freud Universität Wien inne. Außerdem ist er unter anderem Bundesfachgruppenobmann für Kinder- und Jugendheilkunde.

Was ist „hohes“ Fieber?

Unter „hoch“ verstehen Mediziner eine Körpertemperatur über 39 Grad Celsius. Solche Messwerte bei ihrem Kind sind für Eltern oft erschreckend. Allerdings kriegen Kinder (vor allem Kleinkinder) grundsätzlich recht schnell Fieber und häufig auch mal über 39 Grad.

Das innere Aufheizen ist prinzipiell gut, schließlich erfüllt es einen wichtigen Zweck: Das Immunsystem kann dann Krankheitserreger besser bekämpfen. Solange ein Kind trotz Fieber recht munter ist und normal isst und trinkt, müssen Eltern nichts gegen die erhöhte Temperatur tun, schreibt etwa die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) auf ihrer Website.

Anders ist es, wenn das Kind unter dem Fieber leidet, also zum Beispiel viel quengelt und weint. Und klettert die Körpertemperatur weit nach oben, ist ein Fiebersenker generell ratsam – in der Regel bei einer Temperatur über 40 Grad Celsius, empfiehlt die DGKJ. Unterstützend können Eltern zu Hausmitteln greifen, etwa zu körperwarmen Wadenwickeln (nicht bei kalten Beinen!).

Ganz wichtig bei allen fiebernden Kindern ist, dass sie ausreichend trinken – als Ausgleich für die Flüssigkeit, die durch das Schwitzen verloren geht. Eltern sollten deshalb darauf achten, ob ihr fieberndes Kind normal an der Mutterbrust trinkt, beziehungsweise das Fläschchen oder den Teebecher nicht verweigert.

Besonderes Augenmerk auf Babys

Wie ernst Eltern Trinkunlust, Fieber und andere Krankheitssymptome bei ihrem Kind nehmen sollten, hängt auch von seinem Alter ab. „Bei Säuglingen ist man natürlich vorsichtiger als bei älteren Kindern“, sagt Voitl. Eine Unterbrechung der Flüssigkeitsversorgung lässt die Kleinen nämlich schneller austrocknen als etwa einen Achtjährigen. Warnzeichen dafür sind zum Beispiel Teilnahmslosigkeit, eine eingesunkene Fontanelle (weiche Knochenlücke oben auf dem Kopf) und, wenn die Windel über längere Zeit trocken bleibt.

Außerdem kann das derzeit grassierende Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) vor allem für Babys und Kleinkinder gefährlich werden. Eine RSV-Infektion verläuft in dieser Altersgruppe nämlich oft schwer und muss teilweise sogar stationär im Krankenhaus behandelt werden.

Doch längst nicht jeder Atemwegsinfekt ist durch RSV verursacht. Auch Grippe- und Coronaviren sowie diverse „normale“ Erkältungsviren finden zurzeit viele Opfer. Aber solange eine Baby nur milde Symptome zeigt, gäbe es im Allgemeinen keinen Grund zur Sorge, beruhigt Voitl: „Wenn ein Baby nur etwas verschnupft ist, braucht man mit ihm nicht zum Arzt gehen.“

Geduld ist gefragt

Viele Kinderarztpraxen sind derzeit sowieso dermaßen überlastet, dass sie nur wenige freie Termine haben. Diese Erfahrung machen viele Eltern, wenn sie am Telefon viertelstundenlang in der Warteschleife hängen oder mit ihrem Kind ein übervolles Wartezimmer betreten.

Nichtsdestotrotz ist ein niedergelassener Kinderarzt meist die erste Anlaufstelle besorgter Eltern – „auch wenn das momentan eine längere Anfahrtszeit und einige Stunden an Wartezeit bedeuten kann“, betont der Experte.

Ärztlicher Bereitschaftsdienst

Und was, wenn Eltern am Wochenende oder abends, sobald die Praxen geschlossen sind, einen Kinderarzt brauchen? Dann können sie sich an den ärztlichen Bereitschaftsdienst (ärztlichen Notdienst) wenden.

In Deutschland bietet der Patientenservice der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Möglichkeit, Praxen im ärztlichen Bereitschaftsdienst zu suchen. Wer unsicher ist, ob er mit seinem Anliegen beim ärztlichen Bereitschaftsdienst an der richtigen Stelle ist, kann unter der Telefonnummer 116117 nachfragen.

Rettungsdienst nur im Notfall

Schnelle Hilfe ist in medizinischen Notfällen gefragt – etwa wenn ein Kind das erste Mal einen Fieberkrampf hat. Auch wenn dieser meist keine gesundheitlichen Folgen hat, sollten Eltern in so einem Fall möglichst schnell den Kinderarzt oder Notarzt verständigen. Das empfiehlt unter anderem die DGKJ. Richtig reagieren Eltern zudem, wenn sie ruhig bleiben, das Kind nicht allein lassen und seine Kleidung lockern, falls sie eng sitzt (etwa am Hals).

Ein Notfall ist es auch, wenn ein Kind zum Beispiel das Bewusstsein verliert oder zu wenig Sauerstoff bekommt. Letzteres zeigt sich etwa an einer schnellen, flachen Atmung. Auch eine blasse oder bläulich verfärbte Haut, besonders im Bereich der Lippen und Nägel, signalisiert Atemnot. Dann sollten Eltern schnell den Rettungsdienst alarmieren (europaweite Notrufnummer: 112)!

Nicht Aufgabe des Rettungsdienstes ist es dagegen, Patienten lästige Wartezeit zu ersparen: Angesichts voller Arztpraxen und Notaufnahmen sind manche Eltern versucht, den Rettungswagen (RTW) für ihr Kind nur in der Hoffnung auf eine schnellere Behandlung zu rufen – und nicht etwa, weil es dem Sprössling so schlecht ginge.

Kinderarzt Voitl hält das für einen „Missbrauch des Systems“. Bei einem lebensbedrohlichen Zustand wie Atemnot sei es natürlich richtig, den RTW zu rufen, nicht aber, wenn man damit nur langes Warten in einer Kinderarztpraxis vermeiden wolle. Zumal das oft auch gar nicht funktioniert: Bei großem Andrang, wie er derzeit vielerorts herrscht, behandeln Ärzte in der Notaufnahme Patienten nach der medizinischen Dringlichkeit – und nicht nach dem Motto: Dran kommt, wer zuerst da war.

Entspannung wohl erst im Januar

Auch die stationäre Versorgung von Kindern bringt viele Kliniken derzeit an ihre Grenzen. Vielerorts gibt es kaum noch freie Betten. Als Reaktion darauf würden Kliniken verständlicherweise kleine Patienten zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Hause entlassen, sagt Voitl. Was dann aber passieren kann: „Diese Kinder sitzen oft nach kurzer Zeit wieder bei uns Kinderärzten im Wartezimmer.“ Diese insgesamt angespannte Situation werde wohl noch „bis etwa Mitte Jänner“ andauern, schätzt der Kinderarzt.

Knappe Medikamente

Es gibt aber noch eine zweite Sorge, die Eltern kranker Kinder umtreibt: der Engpass bei Arzneimitteln, über den seit Wochen wiederholt in den Medien berichtet wird. „Aber eigentlich fehlen ja ständig irgendwelche Medikamente“, sagt Voitl. Mal ist der Wirkstoff gerade knapp, dann wieder mangelt es an Verpackungsmaterial, die Auslieferung verzögert sich oder die Nachfrage übersteigt das Angebot.

Wie in vielen EU-Ländern, sind fehlende Medikamente derzeit auch in Deutschland ein großes Thema. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind zu 333 rezeptpflichtigen Präparaten Lieferengpässe gemeldet (Stand: 18.12.2022). Zum Vergleich: 2021 waren es 381 Präparate, das Jahr zuvor – dem ersten Corona-Pandemiejahr – 543. Und im Jahr 2019 belief sich die Zahl auf 355.

„Dazu muss man aber wissen, dass es sich hier um freiwillige Meldungen der Hersteller handelt“, erklärt Christian Splett, Stellvertretender Pressesprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e.V. (ABDA), im Gespräch mit NetDoktor.

Andere Länder, andere Sitten

Bei aktuellen Medienberichten zu europaweiten Medikamentenengpässen sollte nicht vergessen werden, dass die Regelungen zur Meldung nicht überall gleich gehandhabt werden. Ob und in welcher Form knappgewordene Medikamente gemeldet werden müssen oder nicht, hängt von den jeweiligen Gesetzen ab. Somit sind die Zahlen nur mit Vorbehalt miteinander vergleichbar.

Beispielsweise gibt es in Deutschland keine Meldepflicht seitens der Pharmaindustrie bei Engpässen zu verschreibungspflichtigen Medikamenten. In Österreich dagegen gilt jede Vertriebseinschränkung rezeptpflichtiger Präparate seit April 2020 als meldepflichtig.

Blockbuster neben Raritäten

Was noch zu berücksichtigen ist: „Die Liste enthält Blockbuster [sehr umsatzstarke Präparate, Anm. der Red.] ebenso wie Medikamente, die nur sehr selten verschrieben werden“, erklärt Splett die Lieferengpassmeldungen beim BfArM.

Das Gleiche gilt für die Liste der vertriebseingeschränkten Medikamente in Österreich. Manche der darin aufgeführten Präparate sind seltener nachgefragt, andere gehen häufig über die Ladentheke in Apotheken – sofern sie erhältlich sind.

Nicht in jedem Fall ein Versorgungsengpass

Zum Glück ist aber nicht jede Vertriebseinschränkung oder jeder Lieferengpass gleichbedeutend mit einem Versorgungsengpass in der Bevölkerung.

Wenn ein bestimmtes Präparat etwa aufgrund von Produktionsproblemen oder kurzfristig starker Nachfrage gerade nicht erhältlich ist, haben Ärzte und Apotheker meist die Möglichkeit, auf ein alternatives Medikament auszuweichen. Das kann zum Beispiel ein wirkstoffgleiches Präparat eines anderen Herstellers sein. Erst wenn das nicht mehr möglich ist, droht ein Engpass in der Versorgung von Patienten.

Wie steht es um Fiebersenker?

Ist das aktuell der Fall, wo unzählige Eltern etwa nach fiebersenkenden Medikamenten für ihre kranken Kinder fragen?

In Deutschland sind lauf BfArM sowohl Ibuprofen- als auch Paracetamol-haltige Kinderarzneimittel (Zäpfchen und Säfte) aktuell nur eingeschränkt verfügbar. Mit konkreten Empfehlungen an Apotheker und Ärzte will das BfArM diesen Engpass abmildern. In Österreich sind diese Mittel hingegen normal erhältlich.

Improvisieren ist angesagt

Beispielsweise sollen Arzt und Apotheker im Einzelfall prüfen, ob man einem kranken Kind anstelle von Fiebersaft oder Fieberzäpfchen auch Tabletten – gegebenenfalls geteilt – geben kann. „Hier spielt aber natürlich das Alter des Kindes eine Rolle“, erklärt ABDA-Sprecher Splett. „Manche Kinder sind noch zu klein, um Tabletten schlucken zu können.“

Oft kann dann eine individuell in der Apotheke hergestellte Rezeptur weiterhelfen. Sofern die nötigen Ausgangsstoffe verfügbar sind, kann ein Apotheker beispielsweise einen Fiebersaft oder Zäpfchen für Kinder selbst herstellen. Das hat aber seinen Preis: „Handarbeit kostet immer mehr als industriell hergestellte Ware“, sagt Splett. Außerdem bräuchte es für solche Rezepturen ein separates Rezept vom Arzt.

Virulentes Problem

Alles in allem verlangt die aktuelle Infektionswelle Patienten (beziehungsweise deren Eltern), Medizinern, Pflegekräften und Apothekern sehr viel ab: Geduld, Improvisation, mehr Arbeit und mehr Kosten. „Es ist nur jetzt virulent geworden.“ Jetzt, wo eine massive Infektionswelle auf den Engpass trifft und pandemie- sowie kriegsbedingte Probleme bei Produktion, Verpackungsmaterialien & Co. die Situation noch verschärfen.

Versorgungssicherheit kostet

Um das Problem ursächlich zu lösen, müsste an mehreren Stellschrauben gedreht werden. Ein Problem ist etwa die breite Verlagerung der Arzneimittelproduktion nach Asien und die Konzentration auf oft nur wenige Hersteller weltweit. „Wir bräuchten in Europa wieder eine starke Produktion für wichtige Medikamentenwirkstoffe“, fordert daher Thomas Benkert, Präsident der Bundesapothekerkammer in Deutschland2. Die gleiche Meinung vertrat seine österreichische Kollegin, Ulrike Mursch-Edlmayr, im ZIB2-Interview.

Darüber hinaus müsse die Politik für die Beschaffung von Arzneimitteln mehr Geld in die Hand nehmen. Der Preis war nämlich bislang meist wichtiger als die Verfügbarkeit von Medikamenten. Dass sich das Sparen am falschen Ende nicht auszahlt, erkannte nun auch der deutsche Bundesgesundheitsminister: „Wir sind auch in diesem Bereich mit der Ökonomisierung zu weit gegangen“, zeigt sich Karl Lauterbach laut ZEITonline3 einsichtig.

Das soll sich nun ändern, was wohl viele Akteure im Gesundheitswesen begrüßen. „Die Versorgungssicherheit ist nicht zum Nulltarif erhältlich“, betont auch ABDA-Sprecher Splett. „Das sollte sie der Gesellschaft aber wert sein.“

1Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): 12.12.2022 – Dringende Empfehlung des Beirats zur eingeschränkten Verfügbarkeit von paracetamol- und ibuprofenhaltigen Arzneimitteln, unter: www.bfarm.de (Abrufdatum: 18.12.2022)

2Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e.V. (ABDA): „Benkert und Fink informieren über Lieferengpässe“ (23.11.2022), unter: www.abda.de (Abrufdatum: 18.12.2022)

3ZEITonline: „Karl Lauterbach sichert Unterstützung für Kindermedizin zu“, 15.12.2022, unter: www.zeit.de (Abrufdatum: 18.12.2022)

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