- Text : Marketing der ALH Gruppe
- Lesedauer : 5 Minuten
Im Februar 2023 erregte ein medizinischer Examenstest weltweit Aufmerksamkeit: Das „United States Medical License Exam“ wurde zwar nur knapp bestanden. Interessanter als das Ergebnis aber war der Prüfling selbst: Der inzwischen weithin bekannte, auf künstlicher Intelligenz basierende Assistent ChatGPT.
Das Experiment war natürlich vor allem ein Gag. In anderen medizinischen Bereichen aber hat die KI längst ernsthaft Einzug gehalten, und sie wird, glaubt man Expertinnen und Experten, die Medizin revolutionieren.
Muster im Chaos finden
Künstliche Intelligenz basiert auf Computerprogrammen, die den neuronalen Netzen im menschlichen Gehirn nachempfunden sind. Sie können riesige Mengen unsortierter Daten sekundenschnell auswerten, im Chaos Muster erkennen und daraus beispielsweise Prognosen ableiten.
Ein Gebiet, in dem KI schon heute vielfach erfolgreich eingesetzt wird, ist die Auswertung medizinischer Bilddaten. Dazu gehören beispielsweise Mammografien, die Brusttumoren entdecken. Die entsprechenden Programme wurden dazu mit mehreren Hundert, wenn nicht Tausenden Bildern gesunder und krebsbefallener Brüste gefüttert.
Lernen unter ärztlicher Aufsicht
Zusätzlich haben Mediziner und Medizinerinnen der KI beigebracht, worauf es bei der Auswertung ankommt, was gesund ist und was nicht. KI-Entwickler sprechen hier von „angeleitetem Lernen“. In der Röntgenmedizin funktioniert die KI wie ein zusätzliches Augenpaar, und zwar eines, das nie müde wird.
Die KI ist abends um 17:30 Uhr noch genauso wach und konzentriert wie morgens um 07:30 Uhr
Prof. Tobias Saam, Vorsitzender der Radiologie Initiative Bayern
Rund 700 verschiedene KI-Anwendungen gibt es schon in der Radiologie, schätzt Saam. Er ist Partner in einer Münchner radiologischen Praxisgemeinschaft, wo bisher 15 solcher Anwendungen im Einsatz sind. Binnen Sekunden markiert das KI-Programm Strukturen, die ihm verdächtig erscheinen, und errechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit es sich um eine problematische Gewebeveränderung handelt. „Bei einem hohen Wert schauen wir uns die Region noch einmal genauer an“, sagt Saam. Umgekehrt können Radiologe oder Radiologin auffällige Bereiche noch einmal detaillierter von der KI überprüfen lassen.
Veränderungen erkennt die KI besser als der Mensch
Überlegen ist die KI, wenn es darum geht, kleinste Veränderungen zu erfassen: Sie misst beispielsweise, dass ein Prostatatumor seit der letzten Untersuchung einen Millimeter an Umfang zugelegt hat. „Da gerät das menschliche Auge wirklich an seine Grenzen“, sagt Saam.
Ein anderes Beispiel ist Multiple Sklerose (MS): Mit Hilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) lassen sich die Schäden an den Nervenfasern in Form weißer Flecken sichtbar machen. „Das sind allerdings nicht nur ein paar, sondern oft mehr als 100 solcher Läsionen“, berichtet der Radiologe. Die KI ermittelt dann blitzschnell, ob bei MS-Kranken seit der letzten Untersuchung weitere Schadstellen hinzugekommen sind – und wo. So lässt sich nicht nur das Fortschreiten der Krankheit, sondern auch die Wirksamkeit der Therapie dokumentieren.
Nebenbei Leben retten
Manche KI-Anwendungen lassen die Münchner Radiologen und Radiologinnen in Saams Praxis routinemäßig mitlaufen: Werden die Blutgefäße im Kopf mittels einer Angiografie untersucht, checkt die KI automatisch, ob irgendwo ein Aneurysma sitzt – eine Gefäßaussackung, die jederzeit platzen kann und so eine lebensgefährliche Hirnblutung verursacht.
Ein Wermutstropfen sind allerdings die Kosten. Denn KI-Expertise gibt es nicht umsonst – sie wird von Firmen entwickelt und verkauft. Auch in der kommenden Version der Gebührenordnung für Ärzte sei dafür keine Abrechnungsziffer vorgesehen, obwohl KI die medizinische Versorgung verbessern könne, berichtet Saam. Und so zahlt die Praxis aus der eigenen Tasche entweder einen Festbetrag pro Einsatz oder eine entsprechende Pauschale. „Leisten können sich das nur größere Praxen oder Kliniken“, sagt der Mediziner.
Den Arztbrief schreibt jetzt die KI
Neben der Unterstützung bei der Diagnostik ist die Entlastung der medizinischen Fachkräfte ein wichtiges Argument für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. „Auf der ganzen Welt fehlten Ärzte, auf der ganzen Welt klagen sie über Überstunden und zu hohe Belastung“, sagt Saam. „Wenn die wieder mehr Zeit haben, sich um ihre Patienten zu kümmern, ihnen die Befunde zu erklären und dann die richtigen nächsten Schritte einzuleiten, kann das die medizinische Qualität enorm steigern“, ist der Radiologe überzeugt.
25 %
der Arbeitszeit verbrauchen Ärztinnen und Ärzte für das Schreiben von Befunden und Arztbriefen.
Je weniger sich der Mensch einmischt, desto besser das Ergebnis
Wirklich spannend wird die Sache, wenn die KI nicht unter Anleitung, sondern frei lernen kann. Das funktioniert dann beispielsweise so: Man nimmt 500 Computertomografie-Bilder von Tumoren, die auf eine Immuntherapie angesprochen haben, und 500 Bilder von Patienten und Patientinnen, bei denen das nicht der Fall war. „Damit trainieren wir ein KI-System, das komplett automatisch lernt, welche Bildeigenschaften mit dem Ansprechen einer Behandlung in Zusammenhang stehen”, erklärt Prof. Jakob Kather von der TU Dresden im Gespräch mit netDoktor. Das könne die Tumorgröße sein, die Textur oder die Form. „Das Ergebnis ist umso besser, je stärker wir die KI in Ruhe lassen, je mehr wir sie selbst herausfinden lassen, worauf es ankommt”, so der Wissenschaftler. Seit 2022 ist er Professor für Clinical Artificial Intelligence am Else Kröner Fresenius Zentrum für Digitale Gesundheit der TU-Dresden.
Die Risiken: Blackbox Algorithmus
Doch wie alles in der Medizin haben KI-basierte Systeme auch unerwünschte Nebenwirkungen. Und diese sind nie neutral: „Die Unfairness, die in den Daten liegt, lernt die KI einfach mit“, weiß Kather. Und das verursacht Verzerrungen.
Die KI ist immer nur so gut wie die Daten, mit denen man sie füttert.
Prof. Tobias Saam, Vorsitzender der Radiologie Initiative Bayern
Ein weiterer zentraler Punkt: Selbstlernende KI-Programme sind letztlich eine Art „Black Box“. Bei vielen Algorithmen wissen nicht einmal die Entwickler im Detail, auf Basis welcher Kriterien das System entscheidet. Wie die Ergebnisse entstanden sind, bleibt im Dunkeln. „Das sind Algorithmen, die wir gar nicht mehr verstehen“, erklärt Saam. Und nicht zuletzt macht auch die künstliche Intelligenz Fehler – mitunter rätselhafte oder auch geradezu absurde. Ein versehentlich abgeschnittenes Röntgenbild löst dann Alarmstufe Rot aus. Die größte Herausforderung sei, die Zuverlässigkeit der Systeme, die jetzt entwickelt würden, in großen Studien zu überprüfen, sagt Kather. Wo sie aber tatsächlich besser arbeiteten als der Mensch, da solle man sie auch einsetzen – zum Wohle der Patientinnen und Patienten.
Ersetzen die Maschinen bald Arzt und Ärztin?
Dass die Maschinen Ärztinnen und Ärzte ganz ersetzen könnten, daran glaubt der Mediziner bei aller Begeisterung für die Möglichkeiten von KI nicht: „Wir machen ja viel mehr als einfach nur diagnostische Puzzle-Aufgaben lösen“, sagt Kather.
Anders als ein Arzt oder eine Ärztin kann eine KI, die auf statistischen Daten beruht, den Einzelfall nicht bewerten. Und es braucht am Ende Menschen, die die Verantwortung für Entscheidungen übernehmen. So läuft es derzeit auch in Saams Radiologiepraxis in München: Die KI ist hier das dritte Augenpaar, die Bewertung übernehmen weiterhin er und seine Kolleginnen und Kollegen.
Und dann ist da noch ein weiter wichtiger Aspekt: „Ich glaube nicht, dass die Menschen akzeptieren, dass ein Computer etwas ausspuckt und über ihr Schicksal bestimmt“, sagt Saam. In dem Fall, so fürchtet er, würden noch mehr Menschen vor der evidenzbasierten Medizin flüchten und andere Methoden, weit weg von Wissenschaft und geprüfter Wirksamkeit, ausprobieren.
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